Mit einer für sich erklärungsbedürftigen Verzögerung von Jahrzehnten hat in den letzten Jahren eine Rezeption und Adaption der Theorie Pierre Bourdieus im Allgemeinen und des von ihm entwickelten Habitus-Konzeptes im Besonderen eingesetzt (vgl. Schreg et al. 2013). Dessen Reiz für Archäologen liegt wesentlich in der Verheißung, im Fundbild sich abzeichnende Unterschiede jenseits hierarchischer, immer schon auf Eliten abhebender Muster interpretieren zu können. Die Rezeption erfolgte weitgehend unkritisch, was auch bedeutet, dass Unklarheiten des Konzeptes nicht beseitigt, sondern auf das archäologische Feld transponiert wurden. Beispielhaft zu nennen sind etwa die Prätention, alle Ausdruck­gestalten menschlicher Praxis seien auf einen Habitus zurückzuführen, sowie die mangelnde Abgrenzung verschiedener Habitus-Typen (Epochenhabitus, Klassenhabitus, wissenschaftlicher Habitus…).
Nach einem kurzen einleitenden Referat soll die gemeinsame Analyse ausgewählter archäologischer Adaptionen des Habitus-Konzeptes im Mittelpunkt des Seminars stehen.
Um eine Anmeldung sowie ggfs. die Mitteilung eigener Interessen wird gebeten (ma.jung@em.uni-frankfurt.de).

literaturempfehlungen

 

Bourdieu über das Habitus-Konzept:

Bourdieu, P., “Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis”, in: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974, 125–158

Bourdieu, P., “Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft”, Frankfurt am Main, 1979, 139–202

Bourdieu, P., “Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft”, Frankfurt am Main, 1982, 277–354

Bourdieu, P., “Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft”, Frankfurt am Main, 1993, 97–121

Bourdieu, P., “Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld”, in: Ders., Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik & Kultur 2, Hamburg, 1997, 59–78

Bourdieu, P./L.D. Wacquant, “Reflexive Anthropologie”, Frankfurt am Main, 1996, 147–174

 

Zur Kritik an Bourdieu aus der Perspektive einer strukturalen Soziologie:

Allert, T., “Sartre mit Chi-Quadrat. Mehr von Bourdieu”, in: Soziologische Revue 22, 1999, 171-180

Oevermann, U., “Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung”, in: Sozialer Sinn 1, 2001, 35–81

Wagner, H.-J., “Kultur – Sozialität – Subjektivität. Konstitu-tionstheoretische Defizite im Werk Pierre Bourdieus”, in: B. Rehbein/G. Saalmann/H. Schwengel (Hrsg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz 2003, 203–230

 

Zu archäologischen Adaptionen des Habitus-Konzeptes:

Ballmer, A., “Zur Topologie des bronzezeitlichen Deponierens. Von der Handlungstheorie zur Raumanalyse”, in: Prähistorische Zeitschrift 85, 2010, 120–131

Barrett, J.C.,“ s.v. Habitus”, in: C. Renfrew/P. Bahn (Hrsg.) Archaeology. The key concepts, London, 2005, 133–137

Bartholdy, S, “Der neolithische Habitus und die bandkeramischen Statuetten. Schlüsselbegriffe Bourdieus im archäologischen Kontext”, Saarbrücken, 2010

Dietler, M./I. Herbich, “Habitus, Techniques, Style: An Integrated Approach to the Social Understanding of Material Culture and Boundaries”, in: M.T. Stark (Hrsg.), The Archaeology of Social Boundaries, Washington, 1998, 232–263

Pfrommer, J., “Zwischen Identifikation und Distinktion. Die Interaktion von Habitus und materieller Kultur am Beispiel der Reformationszeit”, in: B. Scholkmann/S. Frommer/C. Vossler (Hrsg.), Zwischen Tradition und Wandel. Archäologie des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübinger Forschungen zur historischen Archäologie 3, Büchenbach, 2009, 343–351

Schreg, R./J. Zerres/H. Pantermehl/St. Wefers/L. Grunwald/D. Gronenborn, “Habitus – ein soziologisches Konzept in der Archäologie”, in: Archäologische Informationen 36, 2013, 101–112