Materialität als unveränderlicher, den Dingen innewohnender Kern, deren phänomenologische Gewalt (Frers) und Präsenz (Gumbrecht), ihr (akteurtheoretischer?) Eigensinn nebst ihrer Tücke oder ihr eigenes Recht sind derzeit in den Kulturwissenschaften en vogue. Aber sind sie wirklich so neu und modisch, wie sie vorgeben zu sein, sind sie zeitgemäß?

Jenseits innovatorischer Rhetorik (“material turn“) greift das Konzept einer essentialistisch verstandenen Materialität – betont oder auch in wissenschaftsgeschichtlicher Unkenntnis – in meist stark vereinfachter Form Ansätze aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf, die letztlich als phänomenologisch zu bezeichnen sind. Dabei wird mancherlei übersehen:

Die Wissenschaftstheorie hat sich weiterentwickelt, und was um 1900 (Husserl) oder 1920/40 (Heidegger) ohne weiteres schlüssig war, muss sich heute den erkenntnistheoretischen Debatten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts stellen. Insbesondere hat der (radikale) Konstruktivismus einem phänomenologisch-essentialistischen Ansatz den theoretischen Boden entzogen, und jede Phänomenologie muss nun gegenüber dem Konstruktivismus nachweisen, dass sie eine essentialistische Materialität der Dinge logisch zu begründen vermag. “Flotte” Auswege, den Konstruktivismus schlicht für überholt zu erklären (z.B. Latour, Gumbrecht) oder den Dingen gegen ein Übermaß an Idealismus zu ihrem Recht verhelfen zu wollen, bleiben argumentativ leer und scheinen darauf hinzudeuten, dass epistemologische Begründungen fehlen.

Die Annahme einer apriorischen Materialität, die vom Menschen, wenn auch in kulturellen Ausformungen, erkannt werden könne, basiert letztlich auf dem Cartesischen Dualismus von Geist (res cogitans) versus Materie (res extensa), der sich wissenschaftshistorisch als kulturelle Perspektive einer genuin westeuropäischen Geistesgeschichte darstellt. Auch diese Entstehungsbedingungen des Konzepts “Materialität” sprechen gegen die ontologische Annahme einer Materialität als kulturunabhängigem Wesenskern der Dinge.

Das Konzept “Materialität” bedient ein positivistisches Weltbild, das in den Dingen die Basis der Erkenntnis vermutet, und dient damit der Durchsetzung eines naturwissenschaftlichen Blicks auf die Welt. Diese Perspektive, welche die Welt zum Objekt macht, ist ganz wesentlich ein diskursives Machtinstrument (Foucault) und erkenntnistheoretisches Problem der westlichen Kulturen (Groh). In der Kombination von Eurozentrismus und Anspruch auf Allgemeingültigkeit trägt es in seiner Anwendung auf fremde Kulturen kolonialistische Züge.

Das Konzept “Materialität” scheint daher zwar an der Oberfläche eine neue, aktualistische Wende der Kulturwissenschaften zu begründen, entlarvt sich bei näherer Betrachtung aber als äußerst rückwärtsgewandt – und zwar sowohl in erkenntnistheoretischer wie in machtstruktureller Hinsicht. Es bedient mit modisch-theoretischem Anstrich und erheblicher epistemologischer Ignoranz die positivistische Überzeugung des 19. Jahrhunderts, die Basis der Erkenntnis sei das Material, und blockiert damit eine breite erkenntnistheoretisch informierte Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Archäologie.